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Mehr als dreißig Bücher
Das Allerwichtigste in ihrem Leben sei das Schreiben, erklärte die Schriftstellerin einmal:"Ich bin viel zu kritisch als dass ich meine Bücher selber bewundern würde. Doch zwei Bücher lasse ich gelten - drei lasse ich gelten - 'Jan Lobel aus Warschau' - das ist ein schönes Buch, ein sehr menschliches Buch, ein frühes Buch - dann 'Abaelards Liebe' - ein spätes Buch und dann 'Mirjam'."
Über dreißig Romane, Essays, Gedichte, Tagebücher und Reiseberichte, eine zweibändige Autobiografie entstanden in über fünfzig Jahren und wurden in 24 Sprachen übersetzt. Mehr als fünf Millionen Exemplare ihrer Werke wurden verkauft. Zudem haben sie, trotz breit gefächerter Thematik, einen angenehm geringen Umfang zwischen 200 bis 300 Seiten. Ihre Sprache ist knapp, kunstvoll und leicht verständlich. Eine wahrhaft "gärtnerische Sprache" schwärmte Carl Zuckmayer schon 1948.
Ernst Jünger soll sie zum Schreiben angeregt und beraten haben, was sie jedoch nicht daran hinderte, sich nach dem Krieg kritisch über ihn zu äußern. Claudel, Bernanos, Brecht und die Bergpredigt kamen später hinzu. Zu Brecht bekannte sie sich übrigens schon 1960, zu einem Zeitpunkt also, als Bekenntnisse zu diesem Dichter in der Bundesrepublik noch nicht an der Tagesordnung waren. Bis heute gilt ihr Brecht-Essay von 1960 als intellektuelles Glanzstück.
Eine geradezu klassische Novelle und eine erste literarische Verarbeitung der Shoah legte sie 1948 mit der schon erwähnten Erzählung "Jan Lobel aus Warschau" vor, über einen polnischen Juden, der aus dem KZ geflohen war. Als erste Deutsche machte sie nach dem Krieg Front gegen das Schweigen über den Holocaust. Ihren ersten großen Erfolg erzielte Luise Rinser im Jahr 1950 mit dem Roman "Mitte des Lebens", der Geschichte einer Nonkonformistin.
Rasch aufeinander folgten die Romane "Daniela"(1952), "Der Sündenbock"(1954) - eine Parabel um Schuld und Rache, Recht und Gerechtigkeit im Gewand des Detektivromans -, "Abenteuer der Tugend"(1957) und die Erzählung "Geh fort, wenn du kannst" (1959), deren Heldinnen sich nach langen Kämpfen der Religion zuwenden, sowie "Die vollkommene Freude". Mit diesem 1962 erschienenen Buch endete die Reihe der Romane, denen Luise Rinser ihren außerordentlichen Ruhm und eine riesige Lesergemeinde verdankte. Viele hielten ihr ein Leben lang die Treue.
Im Mittelpunkt ihrer Bücher stehen oft Frauen zwischen Freiheit und Bindung, zwischen eigener Berufung und dem befreundeten und manchmal auch angebeteten Mann, Frauen zwischen männlicher Autorität und Selbstfindung, die wie sie unkonventionell leben, lieben und glauben.
Schon in den fünfziger Jahren entwarf sie in ihrem Romanen, insbesondere in "Mitte des Lebens", laut Luise Rinser das erste feministische Buch, lange bevor das Wort "Emanzipation" in Umlauf kam, Bilder von einer unabhängigen Frau, der sich riskierenden Einzelgängerin, die sich behauptet, auch gegen den Rest der Männerwelt.
Als ich das Buch "Mitte des Lebens" in den sechziger Jahren in einem christlichen Frauenkreis vorstellte, dem damals in erster Linie junge Mütter angehörten, waren die Frauen sehr angetan von der kraftvollen und unkonventionellen Heldin und konnten sich mit ihr gut identifizieren.
Vielen Frauen haben Rinsers Bücher Mut zu sich selbst gemacht und eine wichtige Lebenshilfe vermittelt, denn Rinser war in der Tat eine wichtige Ratgeberin für ihre Leserinnen und immer im Spannungsfeld von Liebe und Religion, Politik und Bergpredigt, Apo und Mystik, ein provokantes Programm ohne Stillhalte-Abkommen. Vor Gefühlen, auch vor pathetischen, hat sie sich nie gescheut. Luise Rinser - eine ihrer Schriften heißt "Das unterentwickelte Land Frau" - sagt selbst in dem autobiografischen Text "Im Dunkeln singen", sie schreibe nie Literatur, sondern "immer persönliche Bekenntnisse". Tatsächlich konnten sich viele in Rinsers Büchern wiedererkennen in ihrem problematischen Verhältnis zu überlieferten Werten und Autoritäten. Luise Rinser erntete damit die Dankbarkeit mehrerer Generationen. Überholt und gegenstandslos sind ihre Themen sicherlich noch nicht. Dem "Ungeist der Männlichkeit", den anzuprangern Luise Rinser nie müde wurde, ist beispielsweise noch längst nicht ausgestorben.
Im ersten Teil ihrer 1981 erschienenen Autobiographie "Den Wolf umarmen" schildert sie unbewältigte Kindheitskonflikte, die Beschneidung ihres Freiheitsdrangs durch die Eltern und deren "Lebensneid" auf ihre Tochter und rechnet mit der "sadistischen Form der Unterdrückung" der frühen Jahre rigide ab..
Zunehmend nimmt Rinser in ihren Büchern die religiöse Thematik auf, zum Beispiel im Franziskus-Roman "Bruder Feuer". Hier versucht sie, die Geschichte des Heiligen Franziskus uns Heutigen erfahrbar zu machen. Franziskus erscheint als "geistgetriebener Revolutionär", als "der Heilige der jungen und sich immer wandelnden Menschen". Vielleicht sind heute deshalb so viele junge Menschen von Luise Rinser begeistert, weil auch sie wandlungsfähig geblieben ist bis zu ihrem letzten Atemzug.
"Mirjam", der sehr erfolgreiche und von kirchlich-kitschigem Ballast freie Jesus-Roman(1983) hat vielen Lesern - auch Nichtchristen - einen neuen Zugang zum Neuen Testament gewiesen. Die "Schuld" der Maria Magdalena erweist sich in "Mirjam" als ein Hirngespinst der Männergesellschaft. Stattdessen wird die Heldin dieses Buches, Mirjam, zum Typus einer selbstbewussten, gebildeten und eigenständigen Nachfolgerin Jesu.
Über dieses Buch schrieb Franz Alt in der "Zeit": "Luise Rinser kratzt Schicht um Schicht den Lack von einem zwanzig Jahrhunderte lang übertünchten, kultischen und verkitschten, deformierten und ständig neu gekreuzigten Jesus. Sie erweckt den Mann aus Nazareth zu neuem Leben. Mirjam erinnert abendländische Christen an ihre Jesus-Vergesslichkeit."
Die Hinwendung zu religiösen Themen trugen Luise Rinser den Ruf als Erbauungsschriftstellerin ein. Doch man würde es sich zu leicht machen, würde man sie damit abtun. Immerhin gehört sie zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch so viel ist richtig: sie erlebte sowohl hohes Lob als auch hämische Verrisse.
1991 veröffentlichte Luise Rinser noch einmal ein Buch über eine "amour fou", nun in historischer Gestalt, "Abaelards Liebe"(1991), in dem sie aus der Perspektive eines unhistorischen Sohnes die Liebe des großen Theologen und Philosophen zu seiner Schülerin Héloise schildert.
Wirbel verursachten 1994 ihre unter dem Titel "Gratwanderung. Briefe der Freundschaft an Karl Rahner" veröffentlichte Korrespondenz mit dem Theologen. Der Jesuitenorden befürchtete Missverständnisse, sprich erotische Ausplaudereien. "Nur weil man Rahner als Mensch darstellt und nicht auf dem Sockel stehen lässt, auf dem er gar nicht stehen wollte", meinte die Autorin. Gerade dieses Buch lieferte sie den spitzen Federn schreibender Spötter aus. Als "verhinderte Märtyrerin" und "beharrlichste Ich-Sagerin" wurde sie geschmäht. Unerhörte Taktlosigkeit kreidete man ihr an. Carl Amery warf ihr Wichtigtuerei und Exhibitionismus vor. Dabei war Rahner einverstanden gewesen mit der Veröffentlichung des intimen Tagebuchs, das den Blick frei gibt auf einen Sturzbach der Gefühle zwischen einer liebenden Frau und einem zölibatär lebenden Ordensmann. Er nannte sie "Wuschel", sie ihn nach seinem Sternzeichen "Fisch". Es war eine komplizierte Liebe, eine echt barock-katholische Geschichte mit dem ewig ungelösten Thema: Priester und Frau solange es den widernatürlichen Zölibat gibt. Das Buch ist sicher eine Sensation - aber eine ganz andere als der "Spiegel" vermutet hatte: eine Sensation der Menschlichkeit und alles andere als ein Skandal.
In "Mitgefühl als Weg zum Frieden"(1995) berichtet Luise Rinser über ihre Begegnung mit dem Dalai Lama, dem im indischen Exil lebenden Religionsführer des tibetischen Volkes, den sie noch als 83-Jährige zu Gesprächen aufgesucht hat.
Ihre Bücher sind einfach, empathisch, teilnehmend an der Not der Menschen und nie langweilig, sondern stets voll prallem Leben. Durchgängig sind ihre moralisch-humanistische Grundhaltung bei traditionellem Erzählstil, und die Warmherzigkeit ihres Erzählstroms. In ihren Büchern durchdringen sich Erkenntnishunger und Liebeskraft. Die Grenze zwischen Literatur und Lebenswirklichkeit hebt sie auf und macht auch die Grenze zwischen den Gattungen fließend, weil sie sowohl Stilmittel des Kriminalromans verwendet als auch der trivialen Liebesgeschichte und des Tagebuchs. Sinnstiftung, Glaubensstärke, Umsetzung erkannter und erarbeiteter Gewissheiten gibt es in fast all ihren Romanen. Augenfällig ist bei ihr die Verzahnung von Leben und Schreiben. Von sich hat sie einmal gesagt, sie schreibe keine Literatur, sondern persönliche Bekenntnisse, meist in der Liebe. Schreiben war für sie Innerstes nach außen kehren in oft gescholtener Offenheit.
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