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Nicht nur "Erinnerungskerze" Die Auswirkungen des Holocaust auf Kinder und Enkelkinder(1997)

Wissenschaftler, die die seelischen Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder untersuchten, stellten fest, dass die Erfahrungen der Eltern die zweite Generation meistens stark beeinflusst und nicht selten ihr Verhalten und Handeln bestimmt haben. Einige Forscher sind sogar der Auffassung, dass Familien von Holocaust-Überlebenden in der Regel einem Kind die Rolle einer "Gedenkkerze" zugeschrieben hätten, so dass das Kind dann die emotionale Belastung zu tragen hatte, die die Eltern selbst nicht verkraften konnten.

Mittlerweile sind die Untersuchungen auch auf die Enkelgenenration ausgedehnt und durch sie neue Einsichten über die zweite Generation zu tage gefördert worden. Auch der israelische Psychologieprofessor Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität des Negev in Beer Sheva hat, zusammen mit einigen seiner Studenten,drei verschiedene Lebensperspektiven unter die Lupe genommen:die Sicht der Überlebenden, die Perspektive der mittleren Generation und die der fast erwachsenen Enkelkinder. Für dieses Projekt interviewte das Team jeweils drei Generationen in fünf israelischen Familien. Ihre verschieden erlebten Lebensgeschichten seien vielleicht nicht gerade repräsentativ, räumt der Verfasser ein, gleichwohl enthielten sie typische Probleme der intergenerationellen Übertragung und Durcharbeitung in der israelischen Gesellschaft.

Obwohl Dan Bar-On und seine Studenten dabei auch die Ergebnisse früherer Forschungen berücksichtigt haben, so haben sie doch auf traditionelle Konzepte über Identität und Persönlichkeit verzichtet, um ihre Interviewpartner nicht vornherein einzuengen. Auch haben sie nicht danach gefragt, welche historische Wahrheit in den einzelnen Geschichten enthalten ist. Vielmehr haben sie darauf geachtet, welche Bewältigungsstrategien den einzelnen Erzählungen zugrunde liegen, welche Erklärungsmuster die Interviewten selbst wählten-denn durchweg werden die Geschichten so konstruiert, dass widerstreitende Bedürfnisse und neue Lebenserfahrungen hineinpassen-, und welche Gefühle nicht ausgesprochen, aber übertragen wurden. Sie richteten ihr Augenmerk ferner auf Unstimmigkeiten zwischen der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte sowie auf Widersprüche bei den erzählten Biographien zwischen den Generationen sowie auf den Kontrast zwischen Erzähltem und Nicht-Erzähltem, also zwischen dem,was der einzelne bereitwillig mitteilt, und dem, was er verschweigt oder unbewusst herausfiltert. Denn für die interviewten Überlebenden war es oft schwierig, ihre Erfahrungen und Gefühle in Worte zu fassen. Für die Forscher wiederum war es nicht immer leicht, zu erkennen, welche Probleme auf Nachwirkungen des Holocaust und welche auf andere Faktoren wie Immigration, Familienstrukturen oder individuelle Unterschiede zurückzuführen waren.

Einige der befragten Holocaust-Überlebenden betonten die heroischen Aspekte der Vergangenheit,andere die schmerzlichen Erfahrungen. Genia beispielsweise,die Auschwitz überlebt hat und heute Großmutter von sechs Enkelkindern ist, lebt bewusst und leidvoll in der Vergangenheit. Ze'ev dagegen,der bei den Partisanen gekämpft hat,erzählte ausführlich über seine heldenhafte Zeit und ging über die für ihn unangenehmen und peinlichen Erlebnisse schnell hinweg. Olga wiederum - sie wurde von ihrer Mutter aus dem Warschauer Ghetto herausgeschmuggelt - bemüht sich, trotz des Erlittenen, Hoffnung und Sicherheit zu gewinnen. Während Anja - sie verlor fast die gesamte Familie im Holocaust-der Vergangenheit noch eng verbunden ist, fühlt sich die 1915 in Tripolis geborene Laura trotz mancher Verluste nicht beeinträchtigt.

Die Kinder der Holocaust-Überlebenden, inzwischen reife, selbständige Persönlichkeiten, wuchsen häufig mit einer merkwürdigen Mischung von Furcht und Hoffnung auf und versuchten dann auf dem Weg zum Erwachsenwerden, die eigene Angst zu überwinden, um ihren Kindern Hoffnung zu geben und eine ungetrübte Kindheit zu ermöglichen, die sie selbst gern gehabt hätten. Vor allem hatten sie die schwierige Aufgabe, zwischen ihren Eltern und ihren Kindern zu vermitteln. Auffallend ist ferner, dass der Familienzusammenhalt allen Generationen wichtig ist, dass nicht wenige Kinder und Enkelkinder die eigene Lebensgeschichte im Vergleich zu der ihrer Eltern und Großeltern als blass und unbedeutend empfinden und ständig mit dem Gefühl zu kämpfen haben, sie selbst seien wertlos und unwichtig. Aber es hat sich auch gezeigt, dass die Kinder von Holocaust-Überlebenden alles andere als "Erinnerungskerzen" sind,die nur auf die Geschichten der Überlebenden reagierten. Viele haben sich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Standpunkten einen Weg zwischen den Generationen gebahnt.

Die Enkelkinder hatten dagegen das Privileg, mit Großeltern aufzuwachsen, was der zweiten Generation verwehrt war. Vor allem aber waren sie nicht denselben Bürden ausgesetzt wie ihre Eltern. Auch wenn der Holocaust für die Enkel eher eine Legende ist als eine andauernde Realität und sie selbst vorwiegend mit der Gegenwart und der Zukunft und weniger mit den Problemen der Vergangenheit beschäftigt sind,so ist doch in den meisten Geschichten der dritten Generation immer noch eine Angst spürbar, die aus der Vergangenheit ihrer Großeltern herrührt. Zudem hat die Familiengeschichte ihre Weltsicht und ihre eigene Konstruktion der Realität beeinflusst und dazu geführt, dass sie einen intensiveren Dialog zwischen Furcht und Hoffnung führen als andere ihres Alters. Hingegen nimmt das Gefühl von Entfremdung und Diskontinuität, das ihre Eltern noch deutlich hatten, bei der dritten Generation merklich ab.

Ziel der Durcharbeitungsprozesse sei nicht die Erinnerung loszuwerden,sondern ihre Macht und Kontrolle zu entschärfen, damit in der Gegenwart wieder Freude empfunden werden könne, betont Bar-On. Um die Folgen einer intergenerationellen psychischen Belastung wisse man erst seit kurzem,fügt der Verfasser hinzu, doch reichten unsere Erkenntnisse nicht aus, um diese völlig zu heilen oder zu verhindern.

Bar-On und seine Studenten sind bei ihren Befragungen einfühlsam und umsichtig zu Werke gegangen. Ihre Interviews werden hier im genauen Wortlaut, zusammen mit den nonverbalen Reaktionen und Verhaltensweisen der Gesprächspartner, wiedergegeben und anschließend gründlich analysiert und kommentiert. Die materialreichen Beiträge sind flüssig geschrieben und erstaunlich gut zu lesen, nicht zuletzt deshalb,weil sie ganz ohne Fachjargon auskommen.

Dan Bar-On,

Furcht und Hoffnung,

Von den Überlebenden zu den Enkeln, Drei Generationen des Holocaust.

Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein.

Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag Hamburg 1997

478,--S., DM 46,--


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